„Is alcohol good or bad for you? Yes.” ist der coole Titel eines hochinteressanten Artikels des Public Health Magazines der Harvard University vom 22. August 2024. Darin wenden sich die Autoren gegen die derzeit immer öfter zu lesende Behauptung, wonach bereits der erste Schluck Wein oder Bier gesundheitsschädlich sei und bezeichnen diese als unzulässige Simplifizierung. Außer Streit steht natürlich, dass übermäßiger Alkoholgenuss schwere gesundheitliche Schäden hervorruft. Aber die in letzter Zeit auch von der WHO immer öfter erhobene Behauptung „Alkohol ist immer schädlich“ kann man so nicht einfach stehen lassen. Denn bei geringem und moderatem Weingenuss zum Essen (¼ Liter pro Tag für Männer, für Frauen etwas weniger) überwiegen immer noch die Studien, die bei Menschen ab 40 Jahren positive Effekte im Bereich von Herz- und Gefäßkrankheiten sehen, während allerdings gleichzeitig ein leicht erhöhtes Risiko für gewisse Krebsarten im Bereich des Verdauungstraktes besteht. Dieser Aspekt wird nun von neo-prohibitionistischen Kreisen herausgepickt, um jeglichen Alkoholkonsum und die ganze Weinkultur an den Pranger zu stellen. Ihnen geht es augenscheinlich nicht nur um die Bekämpfung von Alkoholmissbrauch, sondern um die Elimination von Alkoholkonsum überhaupt. Dafür haben sie einen von der WHO übernommenen, simplen Slogan gefunden: „No amount of alcohol is safe“, also jeder Schluck Alkohol ist riskant.
Diese prohibitionistische Position stammt aus den USA, wo schon im 19. Jahrhundert organisierte Interessensgruppen aufeinanderprallten: die Lobbys der großen Spirituosenproduzenten und Brauereien gegen Abstinenzbewegungen wie die 1851 im Staat New York gegründeten Guttempler (International Organization of Good Templars). So kam es in den USA bereits einmal, zwischen 1920 und 1931, zu einem generellen Verbot der Herstellung, des Transports und des Verkaufs von Alkohol, Stichwort „Prohibition“. Das Ergebnis ist bekannt: Der Schwarzmarkt blühte und Al Capone & Co verdienten daran ein Vermögen. Immerhin lieferte dieses politische Fiasko viel Stoff für Hollywood. Dass in dieser Zeit in den USA die Wein- und Esskultur nichts mit dem heutigen Niveau zu tun hatte, ist eine Binsenweisheit. Ich behaupte, die Entwicklung der Weinkultur hatte besonders auch in Amerika einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf einen gesünderen Lifestyle zumindest höherer Gesellschaftsschichten. Warum sollte man den nicht popularisieren? Die Guttempler sind heute eine äußerst aktive NGO und firmieren seit 2020 unter der neuen Marke „Movendi International“ mit Sitz in Stockholm. Sie übt gemeinsam mit anderen Mitstreitern einen wachsenden Einfluss auf die Weltgesundheitsorganisation WHO und damit auf die Gesundheitspolitik in vielen Ländern der Welt aus. Ihre Mitglieder in der ganzen Welt müssen sich verpflichten, ein Leben ohne „Alkohol und andere Drogen“ zu führen. Bestrebungen der Weinwirtschaft um Selbstregulierung statt gesetzlicher Einschränkungen wie „Wine in Moderation“ oder die Verteidigung der Weinkultur mit der Kampagne „VITAEVINO“ werden als pure Propaganda der Alkohollobby betrachtet. Da gerät der Wein, wie wir ihn verstehen, offensichtlich in die Zwickmühle zwischen der Alkoholindustrie und den Abstinenzaktivisten.
Ich arbeite seit 38 Jahren in der Weinbranche, liebe gutes Essen und Trinken und ziehe daraus so viel Freude und wunderbare gemeinschaftliche Erlebnisse, dass ich schon allein deswegen meine schöne hedonistische Lebenswelt gegen den Hygienismus verteidige. Aber gerade weil ich diese Freiheiten genieße, weiß ich auch, dass ich aufpassen muss und mir nichts vormachen darf, denn wir Weinleute neigen auch dazu, über die Stränge zu schlagen und diese Grenzüberschreitungen zu verharmlosen. Und dann gibt es keine positiven Effekte mehr außer der Gaudi vor dem Kater. Also trinke ich nicht jeden Tag und mache auch jedes Jahr eine Fastenkur, die ich nicht erleide, sondern in Vorfreude auf neue Genüsse genieße.
Dazwischen wäre mir jedoch noch nie eingefallen, dass ich den Wein zur Stärkung meiner Herzkranzgefäße trinke. Meine Bezugsquellen sind Vinotheken und Restaurants und keine Apotheken. Die für mich wesentlichen positiven und unverzichtbaren Qualitäten des Weins sind nicht medizinische, sondern hedonistische und kulturelle, und diese Werte werden von den Prohibitionisten notorisch negiert und in ganz bewusst einen Topf mit Drogenmissbrauch geworfen. „Wine ist bottled history“ schreibt der große Hugh Johnson in seinem wichtigsten Werk „The Story of Wine“ und belegt, wie Wein den Fortschritt der Zivilisation über Jahrtausende vorantrieb, durch den Weinhandel die Kontakte zwischen fernen Kulturen erleichterte und so fremde Völker in Lebensfreude und Weltoffenheit zusammenbrachte. „Im Gegensatz zu Spirituosen wurde Wein seit langem als das Getränk der Mäßigung gesehen“, so Johnson. Ehrlicherweise muss man zugeben, dass es dazwischen auch beim Wein Phasen gab, wo es mit der Mäßigung nicht so gut aussah. Davon legen Trinklieder verschiedener Epochen Zeugnis ab. „Die Reblaus“ oder „Einmal in da Woch‘n fall i um“ aus dem Mund von Hans Moser sind nun einmal keine stichhaltigen Argumente gegen Movendi.
Man darf aber nicht vergessen, dass die Gesellschaften in den klassischen Weinländern Europas ihr Konsumverhalten inzwischen stark verändert haben und heute nicht einmal mehr halb so viel Wein wie noch vor 50 Jahren trinken. Bei keinem anderen alkoholischen Getränk ist die konsumierte Menge in unseren Breiten so stark zugunsten der Qualität zurückgegangen. Weniger ist mehr, lautet die Devise und diese qualitätsorientierte Genussphilosophie haben die Europäer in den letzten Jahrzehnten in viele Teile der Welt hinausgetragen und damit einen stabilen Absatz ihres Weins auch bei zurückgehendem Eigenkonsum halten können. Seit wenigen Jahren geht der Gesamtabsatz von Wein in der Welt stetig zurück. Das bedeutet, dass die Rebfläche weltweit zurückgehen wird. Wenn jetzt auch der Wein als immer größere Gefahr für die Gesundheit der Menschen dargestellt wird, übersieht man die zivilisatorische Eigenleistung der Branche. Gerade eine qualitätsorientierte Wein- und Esskultur kann ein wichtiger Beitrag im Kampf gegen den Alkoholmissbrauch sein. Aber wir müssen uns ganz entschieden gegen die Forderung nach einer von oben verordneten völligen Abstinenz wenden. In dieser Frage soll jeder Mensch frei entscheiden dürfen.
Der Begriff Freiheit scheint heute aus der Mode zu sein. Vielmehr werden ständig Entwicklungen als Pionierleistungen gefeiert, die darauf hinauslaufen, die menschliche Freiheit, die Souveränität des Individuums zu untergraben. Wer bitte braucht künstliche Intelligenz? Wollen wir von Maschinen beherrscht werden? Und wenn Elon Musk unbedingt auf den Mars übersiedeln will, soll mir das Recht sein. Inzwischen retten wir unseren Planeten und unsere Weinberge. Wir tun vieles, was Gefahren in sich birgt, und freuen uns daran: Skifahren, Klettern, Tauchen, Motorrad fahren, Pilze sammeln, Schnitzel und Schokolade essen und eben auch Wein genießen. Das ganze Leben ist lebensgefährlich und nicht in erster Linie dazu da, möglichst lange, sondern möglichst sinnvoll und gut zu leben. Warum will man uns ständig Freiheiten entziehen?
Trost, wenn diese Geister in mir hochsteigen, spendet mir die Philosophie mit ihrem bipolaren Begriffspaar apollinisch-dionysisch, welches dem Menschen innewohnende Charakterzüge beschreibt, die den griechischen Göttern Apollon und Dionysos zugeschrieben werden. Früher hieß es, apollinisch stehe für Form und Ordnung, dionysisch für Rausch, Sexualität und alle Formen sprengende Kreativität. Die Hygienisten wären demnach apollinisch, wir Weinleute, Schlemmer und Künstler dionysisch. Auch das ist eine Verkürzung. Das neue Bild des Weingotts Dionysos als „Urbild des unzerstörbaren Lebens“ entstand nach dem zweiten Weltkrieg unter dem Bedrohungsszenario einer atomaren Zerstörung in der Sicht des großen humanistischen Altertumswissenschaftlers Karl Kerényi. Dionysos lässt euphorische Gefühle, schöpferische Phantasie, musikalische und erotische Ekstase zu und wird gerade damit zum Garanten der Ordnung und Stabilität des Gemeinwesens. Und da er ja vor allem der Gott des Weines ist, dürfen wir gutes Essen und Trinken in den Kanon der staatstragenden Aktivitäten der Menschen mit hineinnehmen.
„A Mensch möcht i bleibn“, schrieb Wolfgang Ambros 1974 und wurde damit zum Visionär. Denn um nichts anderes geht es heute mehr denn je. Lasst uns in Freiheit leben, und lasst uns den Wein! Den haben die Götter uns gegeben, zum Teufel noch einmal! Und ja, Apollon, ich höre Dich und passe auf …