Die letzte Wahrheit heißt Cognac
Ein Plädoyer für Frankreichs Klassiker in Zeiten des Gin Booms
Es ist der Tag vor der Weinmesse VINEXPO Bordeaux im Jahr 1989. Zum Relaunch des kleinen Cognac-Hauses A.E. Dor treffen sich 30 Experten und Importeure aus aller Welt in der Schatzkammer der Firma, um Frankreichs ältesten amtlich zertifizierten Cognac aus dem Jahr 1805 zu verkosten. Wir wurden in das „Paradis“ gebeten, jenes hinterste Kellerabteil, wo die Erzeuger ihre wertvollsten Reserven in Glasballons, sogenannten Bonbonnes (2–25 Liter) oder Dame-Jeannes (30–50 Liter), lagern, nachdem die wertvollsten Brände ihre bis zu 50-jährige Holzfassreifung abgeschlossen haben. Fünf Liter fasste die kleine Korbflasche mit dem 1805er, dessen Siegel der Besitzer zum ersten Mal in der Geschichte brach, um den Anwesenden mit einem Gummischlauch eine winzige Kostprobe zu zapfen. Mit seinem im Lauf von fast zwei Jahrhunderten auf 30 Prozent gesunkenen Alkoholgehalt schmeckte der Methusalem entsprechend mild und, zugegeben, schon ein wenig schlaff. Dennoch zählt der kleine Schluck, den ich damals als einer der Glücklichen gereicht bekam, zu den bemerkenswertesten Erlebnissen meiner Laufbahn. Wer so alte Spezialitäten trinkt, erlebt Geschichte: „Als dieser Cognac im November 1805 gebrannt wurde, befand sich Napoleon auf dem Weg nach Wien“, wurde bei der Verkostung aus den Annalen verlesen. Dass die Franzosen gerade am 11. November 1805 in Loiben in der Wachau ein Gefecht verloren, von dem das Denkmal am Höhereck zeugt, hielt sie bekanntlich nicht auf.
Cognac ist ein jahrhundertealtes Kulturgut, ein Produkt, das mehr als jede andere Spirituose vom Terroir der Charente im Westen Frankreichs geprägt ist. Die besonders porösen Kreideböden der Kernzone „Grande Champagne“ bringen im Zusammenspiel mit dem kühlen atlantischen Klima jene säurebetonten Weine hervor, die man als solche niemals trinken möchte, während sie in destilliertem Zustand nach langer Reifung in kleinen Eichenfässern zum großartigsten Brand der Welt heranreifen. Das Gros der jungen Cognacs wird nach wenigen Jahren in günstigeren Preisklassen verkauft und hat relativ wenig mit jenen erlesenen Reserven zu tun, die den strengen Ausleseprozess von Expertengaumen überstehen. Diese erreichen während einer 20 bis 50 Jahre dauernden Reifezeit im Eichenfass jene überragende Komplexität, Tiefe und Balance, die große Cognacs so einzigartig macht. Dagegen wirkt der heute so populäre Gin als lustiger Flachwurzler. Es gibt aber auch wirklich interessante junge Cognacs, wie den „COQ“ des kleinen feinen Hauses Fillioux. Im Gegensatz zu den kommerziellen Standardprodukten mit ihrem von Zuckercouleur karamellig eingeebneten Geschmack ist selbst beim Benjamin dieser alten Cognacfamilie das Terroir der Grande Champagne durch eine bezaubernde Fruchtigkeit sofort präsent. Aber klarerweise muss man etwas tiefer in die Tasche greifen, wenn man das ganz große Cognac-Erlebnis mit bleibenden Geschmackseindrücken, wie beim „Très Vieux XO Extra“ oder gar beim 18-jährigen „So Elegantissime XO“ haben will. Die sind für ihr wirklich großes Niveau aber immer noch wohlfeil, denn wahre Kenner wissen: Die Cognac-Preisskala ist nach oben offen, und nicht immer hält die Qualität mit dem Trara mit.
Gegen den noblen Cognac ist der Armagnac ein rustikaler Bursche, und das soll er auch sein. Als Kind Aquitaniens gehört er in den Kontext der regionalen Kost zwischen Toulouse und Bordeaux. Ein verrückter Pariser Koch hat einmal geschrieben, Foie gras könne man nicht besser erleben als am Morgen nach der Jagd mit einem Glas Armagnac. Mir fallen natürlich auch weniger kontroversielle Szenarien ein, um dem kleinen Bruder des Cognacs Ehre zu erweisen. Ich sehe noch heute den Szenewirt Jean-Pierre Xiradakis in seinem herrlichen Bordelaiser Beisl „La Tupina“ am Haustisch neben dem Grill schlemmen. Als ich ihn fragte, was er im Glas habe, befahl er kurz: „Goûte!“ (Koste mal!) Es war ein Armagnac, rau, vanillig, fruchttief – ganz nach dem Charakter des Lokals: „Authentiquement Sud-Ouest“. Insofern ist auch der Calvados, um den es bei uns zuletzt etwas still geworden ist, unverwüstlich, denn sein Charakter wurzelt tief in der Erde des Pays d’Auge, dem Apfelland der Normandie. Und während man im noblen Deauville auf der Rennbahn champagnisiert, kann man sich im Hinterland, dem besten Teil der Calvados-Produktionszone und gleichzeitig einer der ruhigsten Gegenden der Grande Nation, in einem der zahlreichen Manoirs trefflich erholen. Es ist schön in der Normandie abseits der Küste. Auch die Käse sind spitze: Pont l’Évêque, Livarot und der echte Camembert. Und ein guter Calvados passt zu den edlen Stinkern sicher besser als jeder Wein.
Ihr Willi Klinger